Klein Venedig inmitten Japans.
Kurashiki wandelte sich im Laufe der letzten Jahrhunderte, vor der Industrialisierung, zu einer bedeutenden Handelsstadt in Japan. Der Name der Stadt bedeutet so viel wie „Dorf aus Lagerhäusern“. Das ursprüngliche Dorf wuchs während der Edo-Periode vom 17. Jh. bis fast zum Ende des 19. Jh. stetig. Heute ist es die Heimat für rund eine halbe Million Einwohner. In einem überschaubaren Areal im Stadtkern sind noch dutzende Bauten aus der Blütezeit des alten Handelszentrum erhalten. Nur ein paar Gehminuten vom Bahnhof entfernt stehe ich an Kanälen, auf denen vor langer Zeit hauptsächlich Reis und weitere Waren hin und her transportiert wurden. Entlang der Kanäle reihen sich auf beiden Seiten Trauerweiden, die ihre Äste über die Wasserflächen strecken. Ab und zu überbrückt auch eine historische Steinbrücke die Wasserwege und verbindet die parallel verlaufenden Straßen miteinander. Der mühsame Transport der Waren erfolgte mithilfe wackeliger Stocherkähne die über die künstlich angelegten Wasserwege fuhren. Heute drehen hier im Angesicht von historischen Lagerhäusern und Kaufmannsanwesen mehrheitlich Schwäne und Enten ihre Runden auf dem Wasser. Ab und zu werden auch Touristen von in Tracht gekleideten Fährmännern durch die Kanäle gepaddelt. Von einer der Brücken streifen meine Blicke in alle Himmelsrichtungen über die Szenerie. Würden nicht weitere Ausflügler hier flanieren, könnte ich auch inmitten eines klassischen Filmsets für einen noch unveröffentlichten Abenteuerfilm stehen. Die ehemals als Lager genutzten Häuser sind heutzutage kleine Geschäfte und Werkstätten. Dort bieten die Inhaber eine Vielzahl handgemachter Arbeiten an.
Hinter verschlossenen Türen.
Etwas abseits der heutigen touristischen Altstadt erbaute ein vermögender Händler im Jahr 1796 sein Wohnsitz. Mit Blick von der Straße aus, fügt sich die Fassade des Ohashi-Haus ohne übertriebenen Prunk, fast gleichgültig, in die Häuserreihe der angrenzenden Gebäude. Nur ein etwas breiterer, unscheinbarer Eingang, der mittels eines halb auf den Boden hängenden Vorhangs vor eindringlichen Blicken schützt, weist den Weg in das dahinter verborgenes Anwesen.
„Mit dem Beginn der Edo-Periode galt eine neue Gesellschaftsordnung, welche letztendlich eine lange Militärdiktatur wurde. An der Spitze die adeligen Familien der Krieger, die zugleich auch Landesfürsten waren. Diese standen unter ständiger Kontrolle der Zentralregierung. Der Machthaber hatte per Gesetz umfassende Verfügungsgewalt und vollständige Kontrolle über deren Einkommen ihres Verwaltungsbezirks. Mögliche Putschversuche wurden unter anderem durch diese Maßnahme erfolgreich vereitelt.
Als nächstes folgte das Volk der Bürger, aufgeteilt in Mittelschicht mit der Landbevölkerung und der Unterschicht der Stadtbevölkerung. Die Landbevölkerung, meist Bauern, hatte den Auftrag die Gesellschaft mit Nahrung zu versorgen. Ihre erzeugten Produkte galten als Zahlungsmittel und ein großer Teil mußte als Steuerabgabe an den Stand der Krieger abgegeben werden. Die Reisproduktion hatte dabei vor allem anderen einen hohen Stellenwert und war der Gesellschaft von höchstem Nutzen.
Als unterste Ebene der Gesellschaft fungierte die Stadtbevölkerung, unter der die Händler und Handwerker zusammengefasst waren. Das städtische Handwerk galt als Kunst, welches höheren Ansprüchen (Waffenkammer, Architekten) diente. Die Händler verteilten eigentlich nur das, was andere erarbeiteten.
Außerhalb aller Stände stand sich der Kaiserhof. Der amtierende Kaiser, einschließlich Gefolge, wurde reduziert auf eine zeremonielle Rolle ohne tatsächliche Macht.“
Geschickte Händler häuften, entgegen der vorgesehenen Stellung in der Gesellschaft, das meiste Vermögen. Die Mitglieder des Standes stiegen alsbald zu den Herren der Gesellschaft auf. Die Händler verbargen diesen Reichtum auch durch unscheinbare Häuser wie dieses in Kurashiki. Das herrschaftliche Anwesen besticht im Inneren durch seine Größe und Eleganz. Als wären die Besitzer erst gestern ausgezogen überzeugt die heutige Sehenswürdigkeit auf einem Rundgang mit einer Vielzahl von Zimmern und allerlei Möbeln und Antiquitäten. Die Exponate sind nicht wie in Museen hinter Vitrinen weggeschlossen, sondern schmücken und gestalten die einzelnen Zimmer. Es fühlt sich an und sieht aus wie im alten Japan.